Visionäre Kraft und überpersönliche Megatrends


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Abgeschickt von Egon de Neidels am 05 November, 2007 um 02:48:57:

Meine kurzen Gedanken zu:

Visionäre Kraft und überpersönliche Megatrends

Man sollte vielleicht „Die Internatonale“, jenes alte Lied, das lägst verklungen, etwas umschreiben

„Es rettet uns kein höheres Wesen
Kein Kaiser, König noch Vision...“

Als 1985 in einer NDR-Talkshow die Herren Schneider und Lochte (damals Verfassungsschutzchef der Freien und Hansestadt Hamburg) mit Hoimar von Ditfurth über dessen damals neues Buch, als „Apfelbäumchen“ bekannt, diskutierten, meinte Lochte, HvD möge noch viele Nachfolger haben und HvD sagte dazu, dass er nichts dagegen hätte, falls er sich irren sollte. Mittlerweile sind mehr als 20 Jahre vergangen, der Autor leider nicht mehr unter den Lebenden, der sowjetische Machtblock zusammengebrochen, fanden zwei Irak-Kriege statt, haben Pakistan und Nord-Korea Nuklearwaffen entwickelt, sind zwei Passagierflugzeuge in das World Trade Center in New York infolge eines neuen globalen Terrors gerast, wird die BRD am „Hindukusch verteidigt“ (Afghanistan, „Enduring Freedom“), haben Unwetterkatastrophen mit großen Überschwemmungen auch Deutschland erreicht, zeichnet sich eine neue religiöse Hysterie im Zeichen auch christlichen Fundamentalismus (Kreationismus) ab und vieles mehr, während die Weltbevölkerung auf nunmehr ca. 7 Milliarden Menschen angewachsen ist (Mitte der 60iger Jahren – also vor rd. 40 Jahren – waren es noch 3 Milliarden).

„We are the Village Green Preservation Society“ sang in den 60igern die britische Pop-Gruppe „The Kinks“ und fügte in leiser Ironie hinzu „God saves Donald Duck“. Aber eben das sind wir schon lange nicht mehr, denn das Ende unseres sog. Wirtschaftswunders zeichnete sich schon mit der großen Koalition und der vom damaligen Minister Schiller initiierten „konzertierten Aktion“ ab – ein letztes Aufbäumen vor dem schleichenden Beginn der großen Arbeitslosigkeit.

Visionen brauchen Visionäre und wir hatte sie. Wir hatten sie ab ca. Mitte der 60iger Jahre bis tief in die 70iger Jahre hinein. Bloch, Dutschke, Marcuse – um nur drei Namen zu nennen - sahen eine lichte Zukunft. Sie sahen einen „Prozesspunkt in der Geschichte erreicht“ (Dutschke), in denen Geschichte machbar werden sollte und nicht länger als schicksalhaftes Verhängnis zu ertragen sei. Und wir hatten den Aufbruch unter der Regierung Brandt/Scheel, die Ablösung einer vom „Muff der Tausend Jahre“ nicht unbeeinflussten Ära Adenauer und seiner Nachfolger, ein Aufbruch, für den sich damals u.a. nicht nur ein Günter Grass sondern auch ein Hoimar von Ditfurth begeisterte. Mit den GRÜNEN kam noch mal frischer Wind auf und neue Visionäre, die aber mehr an den Symptomen einer Wirtschafts- und Gesellschaftsform interessiert schienen als an den eigentlichen Ursachen. Der sog. Öko-Freak hatte den Sandkastenrevolutionär abgelöst. Mit dem Suizid von Kelly und Bastian war die erste Garnitur der GRÜNEN endgültig dahin und es erfolgte eine langsame Anpassung an das System.

Alles ging dann unter in den Terrorakten einer selbstgerechten anarchistischen Splittergruppe, neuen Wirtschaftkrisen bis hin zum sog. Nato-Doppelbeschluss. Die einst so sensible Jugend, die vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges und den Zumutungen einer nachlässigen Entnazifizierung protestierte oder als Hippies und sog. Gammler eine Verweigerungshaltung einnahmen, resignierte, ging zu dubiosen Politsekten (sog. K-Gruppen) oder zu indischen Gurus (Bhagwan, et al.) und gelangte endlich zur Anpassung an ein System, was sie einst ablehnten. Ausgeträumt! Es war nicht gelungen, den überpersönlichen Megatrends globaler Wirtschaftspolitik Paroli zu bieten. Stattdessen fanden wir einige der einstigen Idealisten sogar auf der administrativen Seite des Systems wieder, das sie doch eigentlich nicht wollten. Die Tochter Jutta des Namensgebers dieser Page – aber ohne „von“ - , selber einst aktive Politikerin der GRÜNEN, hat u.a. die Charaktere der Fischer, Cohn-Bendit und Co gut analysiert, so dass man ggf. bei ihr nachlesen mag, was hier gemeint ist.

Die gegenwärtige Situation erscheint mir wie die Nebelwanderung Hermann Hesses: „Seltsam im Nebel zu wandern“, „keiner sieht den anderen, jeder ist allein“. Keine Studenten gehen mehr für größere Ziele auf die Strasse, demonstriert wird nur noch um des Geldbeutel willen – was notwendig ist, aber doch nur der eigenen finanziellen Sicherheit dient und nicht dem Befinden der Artgenossen am anderen Ende der Welt oder gar dem Zustand des Planten an sich. Kein Grzimek zeigt mehr einen Film zur Rettung bedrohter Tierarten, das große Engagement verlischt in zunehmender Entsolidarisierung. Dumpfe betäubende Billigunterhaltung flimmert tagtäglich in zig Programmen über die Fernsehschirme, die flach geworden wie die Sendungen, die sie zeigen. Tausende arbeitsfähiger Menschen hocken bei Hartz IV oder Sozialhilfe – von den armen Rentnern ganz zu schweigen - zuhause und warten auf den Tod, denn zu einem würdigen Leben reicht es nicht. In dieser Tristesse denkt kaum noch einer weiter als bis zu den vier Wänden seiner Unterkunft. Auf der anderen Seite tummelt sich eine Spaßgesellschaft denkfauler überindividualisierter Menschen in missverstandenem Epikurismus, gibt sich einem billigen Hedonismus hin ohne Rücksicht auf ihre Artgenossen in der Nähe – nicht die am anderen Ende der Welt, die waren schon vorher abgeschrieben.

Und da sollen jetzt Visionen zu finden sein? Visionen rütteln auf und begeistern – wo wird hier aufgerüttelt, wo wird hier begeistert? Visionen sind gescheitert, denn sie können auch zu großem Übel verführen. Hatten nicht auch die Nazis Visionen? Sie hatten! Großdeutsche Visionen von Volksgemeinschaft und Rittergütern in Osten und Sklaven, die für die Deutschen arbeiten sollten. Hatten nicht auch die Kommunisten Visionen? Sie hatten! Eine klassenlose Gesellschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen leben kann. Auf dem Boden unseres Landes hatten wir es bekanntlich mit beiden zu tun und Leid und Tod waren das Ergebnis während sich die großen Versprechen als Lügen entlarvten. Wem sollte man es daher verdenken, auf Visionen ablehnend zu regieren – vorausgesetzt es wären überhaupt noch große Visionen vorhanden? Muss man als Idealist nicht riskieren, missbraucht und verheizt zu werden? Hat nicht unsere unselige Vergangenheit – und nicht nur unsere – genau das gezeigt, geradezu mit fast zwangsläufiger Sicherheit belegt? Ist nicht jeder historische Film über Reichsparteitage, Aufmärschen auf dem Roten Platz und ähnliches ein Beleg für die ins Irrsinnige laufende Macht von Visionen?

Ich halte nach wie vor die Geschichte für machbar – aber sie wird nicht gemacht, sie geschieht. Sie geschieht, weil es überpersönliche Trends gibt, die auf ganz anderen Prozessen und Strukturen basieren als allgemein vermutet. Visionen, Religionen oder Ideologien waren und sind niemals die wirklichen Gestalter der Geschichte gewesen und werden es auch in Zukunft nicht sein. Visionen, Religionen und Ideologien sind Reflexe und Projektionen unserer Gehirne auf die Vorgänge in der Natur, die uns ungleich überlegen ist sowohl in ihren Details als auch in ihrer Größe. Alle unsere Vorstellungen über Natur und Gesellschaft sind Modelle, die trotz ihrer oft großen Genauigkeit doch nur im Rahmen dessen ablaufen, was uns zugänglich ist. Welt an sich ist uns nur partiell rekonstruierbar auf der Höhe unserer evolutionsbiologisch erreichten neuronalen Kapazität. Jenseits davon ist für uns Niemandsland, das wir so wenig erreichen werden wie ein Schimpanse das Verständnis der sog. Himmelsmechanik eines Keppler. Daraus ergibt sich auch die Frage, ob die von uns im Kollektiv vieler Gehirne über weite Zeiträume erzeugten Strukturen und Prozesse nicht eine Art Schwellwert überschritten haben, jenseits dessen wir der Gesamtlage überhaupt noch Herr werden können – ganz abgesehen von den Auswirkungen dieser Aktivitäten auf die uns umgebende Natur. Ein einzelnes Gehirn wird das nicht mehr erfassen könnte, was auch eine Warnung vor charismatischen „Rettergestalten“ bzw. selbst- oder fremdernannten „Führern“ bedeutet. Wie sollte also da Geschichte noch machbar sein? Ich halte sie dennoch für machbar aber nicht für dirigierbar. Das scheint mir ja gerade der Kardinalirrtum zu sein, zu denken, man könne die Wirklichkeit verfügen. Hierarchische Strukturen müssten zu Netzen umgestaltet werden, aus Organisationen müssten Organismen werden. Natur geschieht und alle Erkenntnisse, die wir aus der Natur gewonnen haben, sind überwiegend in technische Errungenschaften überführt worden wo sie weiter geschehen, wo Natur weiter geschieht. Hier sitzt der Motor unseres gesellschaftlichen Fortschrittes. Ohne Räder, Hebel, Metallverarbeitung, Teleskop, Mikroskop, Retorten über Dampfmaschine, Generator bis hin zu Computer und Roboter sowie Teilchenbeschleuniger, usw. wären wir heute keine moderne Gesellschaft sondern immer noch Steinzeitgestalten. Wer die Macht über diese Errungenschaften besaß, hatte immer auch die tatsächliche Macht über die jeweilige Gesellschaft. Hier wurzelt das Problem. Es besteht schlicht und einfach in der Tatsache, dass nicht allen alle Errungenschaften von Wissenschaft und Technik offen stehen, sondern diese in den Händen weniger in erster Linie dazu gebraucht werden, Kapital einseitig und rücksichtslos zu akkumulieren. Diese von Marx entdeckte Tatsache – und ich sage das ohne Marxist zu sein oder Sympathien für längst abgewirtschaftete Stalinismen (die den Marxschen Grundsatz, an allem zu zweifeln, zugunsten einer tödlichen Dogmatik verwarfen) zu empfinden – ist elementar. Die Verhältnisse, unter denen Technik zur Anwendung kommt, stehen im Widerspruch zur Fähigkeit dieser Technik, allen zum Segen zu gereichen. Dazu kommt die Tatsache, dass Technologien – wie z.B. jene zur Bewässerung und Urbarmachung von Wüsten oder die Nutzbarmachung von Erdwärme, usw. – gar nicht erst zum Einsatz kommen und nur dann von Interesse sind, wenn sie versprechen, einerseits den Status Quo einer auf Natur- und Menschenausbeutung ausgerichteten Gesellschaftsordnung nicht zu gefährden und andererseits in dem vorherrschenden wirtschaftlich-sozialen Bezugssystem Profite versprechen.

Die Marxsche Erkenntnis, dass Technik (Produktionsmittel) der Motor für die gesellschaftliche Entwicklung ist, muss auf einen weiteren und m.E. sehr wichtigen Punkt erweitert werden, der im Keim in der Lehre von Basis und Überbau schon bei Marx angelegt ist. Unser Denken ist natürlich auch abhängig vom Stand naturwissenschaftlich-technischer Errungenschaften und es hinkt ebenso der tatsächlichen Erkenntnislage hinterher wie die (Produktions)Verhältnisse. Ich meine das Newton-Cartesianische Paradigma, das Phänomen bevorzugt isoliert und strukturell betrachtet und analysiert. Das führt bei allem Fortschritt, den diese Denkart natürlich auch gebracht hat, zu einer Ignoranz von tatsächlich nur in Netzwerken prozessual begreifbaren Zusammenhängen in Natur und Gesellschaft. Was wir brauchen, ist auch hier die Höhe unserer Zeit; wir brauchen ein Einstein-Heisenbergsches Paradigma.

Es besteht also Hoffnung, die auf Fakten und nicht auf Visionen beruht. Freilich bleibt die bange Frage, wo, wie und wann denn eine Politik geschaffen und zum Durchbruch kommen kann, die alles das transportiert zum Wohle aller und nicht wie gehabt zum Wohle weniger. Zu dieser Problematik kommt ja auch noch die globale Notwendigkeit hinzu, denn ein fortschrittlicher modern ökologischer Staat – könnte man ihn überhaupt errichten - würde ja noch nicht viel bedeuten, wenn woanders im großen Stil weiter „geholzt“ und ausgebeutet wird. Da hatte dann wohl Leo Trotzki – trotz seiner Gewaltansichten, die ich nicht teile - nicht ganz unrecht, als er die weltweite Revolution forderte.

Zur bitteren Neige wird der Kelch wohl gehen müssen, bevor etwas passiert – so wird wohl die Dialektik der Geschichte alles auf die Spitze treiben um dann einen möglichen Umschlag in eine neue und hoffentlich bessere Qualität zu bewirken.

Gruß

Egon de Neidels




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